Den Brüdern Jean-Pierre und Luc Dardenne ist mit dem Film Das unbekannte Mädchen wieder einmal ein kleines Meisterwerk gelungen. Eine junge Ärztin verbietet ihrem Praktikanten die Türe der Praxis zu öffnen, als es außerhalb der Öffnungszeiten klingelt. Kurz darauf wird eine schwarze Prostituierte tot am Ufer aufgefunden. Auf der Überwachungskamera der Arztpraxis wird deutlich, dass die junge Frau auf der Flucht war und in ihrer Verzweiflung an der Türe der Praxis geklingelt hat. Da sich die Polizei nicht sonderlich für eine ausländische Prostituierte interessiert, beschließt die Ärztin mit einem Bild auf ihrem Smartphone bei ihren Patienten nach diesem getöteten Mädchen nachzufragen. Bei einem Hausbesuch verrät sich ein Patient durch ein medizinisches Symptom, dass er die Getötete kennt.

Die Schauspielerin Adèle Haenel spielt die Ärztin, die mit stoischer Unnachgiebigkeit nach dem Mädchen fragt und im Verlauf der Handlung ignoriert, abgewiesen, angelogen und bedroht wird. Das Wort Schuldgefühl taucht in diesem Film nicht einmal auf und dem ausdruckslosen Gesicht der Schauspielerin ist nicht abzulesen, was sich in ihrem Inneren abspielt oder was sie antreibt. Ihre Persönlichkeit findet ausschließlich durch ihre Handlungen einen Ausdruck. Dies wird auch deutlich, als sie vor der Entscheidung steht, den Weg als Privatärztin oder Kassenärztin einzuschlagen, oder ihren Praktikanten zurückzuholen, der nach dem Tod der jungen Frau sein Medizinstudium geschmissen hat.

Mit den Mitteln der medizinischen Diagnose führt sie ihre detektivische Untersuchungen durch und bewertet, wie bei einer Ärztin üblich, die Ergebnisse nicht. Auf die Weigerungen der beteiligten Personen, ihr die Wahrheit zu sagen, reagiert sie grundsätzlich mit schweigender Geduld und eröffnet ihnen die Möglichkeit, im Rahmen der ärztlichen Schweigepflicht die innere Belastung bei ihr abzuladen. Bei jedem Protagonisten, der mit der getöteten Frau in Kontakt kam als sie noch lebte, wird durch die Nachfrage der Ärztin ein Schuldgefühl offengelegt, das mit dem Tod der junge Frau gar nicht unbedingt etwas zu tun hat, das sich aber wie eine Infektion immer weiter ausbreitet, bis der innere Druck nicht mehr auszuhalten ist. Die junge Ärztin identifiziert diese seelischen Wunden und behandelt die verdrängten Verletzungen indem sie die Wahrheit ans Licht bringt. Das alles geschieht aber ohne viel Worte und ist nur in den großen blaugrauen Augen von Adèle Haenel abzulesen.