Kein Filmemacher geht so weit über die Grenzen des seriellen Schreibens hinaus wie der Filmproduzent und Autor David Simon. Keiner geht mit der realistischen Erzählweise dermaßen an die Grenze des Erträglichen und schafft damit das, was unserer Gesellschaft am meisten fehlt: Mitgefühl und Verständnis. Bereits in seinen Serien Treme, The Wire und The Corner hat er den Überlebenskampf der Ärmsten beschrieben und dabei alle vorherrschenden Klischees über die Ausgestoßenen unserer Gesellschaft unterlaufen. In Treme dürfen die vorwiegend schwarzen Menschen aus New Orleans nach dem Hurricane Kathrina nicht in ihre unbeschädigten Wohnung zurückkehren, da die Stadt die armen Stadtgebiete zum Spekulationsobjekt umgewandelt hat; in The Wire geht es um die kapitalistische und ausbeuterische Abläufe des Drogenhandels in verarmten Städten; und in The Corner geht es darum wie die Arbeitslosigkeit ganze Gesellschaftsschichten und Stadtteile in die Drogenabhängigkeit geführt haben. Die Serien von David Simon sind eine Gesellschaftskritik wie man sie schärfer nicht formulieren kann. Und gleichzeitig wird uns deutlich gemacht, dass in den kleinen, erbärmlichen Schicksalen der Ärmsten unserer Gesellschaft die größten Dramen des Anfangs des 21. Jahrhunderts abgebildet sind.

In der Serie The Deuce von David Simon und George P. Pelecanos geht es um die Prostitution in New York anfangs der 1970er Jahre, den Beginn der Pornoindustrie und wie die Mafia durch ihre organisierten Geschäfte den Wandel des heruntergekommen Stadtviertels um den Times Square in New York angeschoben haben. Wie in seinen Serien zuvor beschreibt David Simon sehr genau wie die Geschäfte auf den Straßen abgelaufen sind. Die Unterwerfung einer Prostituierten unter die Omnipotenz ihres Zuhälters ist entwürdigend und doch ist sie, wie eine Prostituierte an einer Stelle sagt, ehrlicher als der bedingungslose Gehorsam unter einem Ehemann oder Vater, wie er zur damaligen Zeit juristisch festgelegt war.

Die Schauspielerin Maggie Gyllenhaal spielt die Prostituierte Candy, die keinen Zuhälter hat und sich früh für Pornofilmproduktionen interessiert, da hier die Prostitution in einem geschützten, professionelleren Rahmen stattfindet. The Deuce spielt in dem Spannungsraum zwischen dem von Zuhältern organisierten Straßenstrich und der langsamen Verlagerung der Prostitution in die Bordelle und die Pornoindustrie mit tatkräftiger Unterstützung der Mafia und der korrupten Polizei von New York. Als Prostituierte ohne Schutz muss sich Candy allein gegen die Zuhälter und gewalttätige Kunden durchsetzen. Obwohl die Charakterisierungen der Figuren sehr genau gezeichnet sind, konzentriert sich die Erzählung nicht so sehr auf die Erlebnisse der Figuren, sondern auf die Veränderungen im alltäglichen Ablauf und das Geldverdienen. Das heißt nicht, dass die Figuren nicht widersprüchlich angelegt wären und sie keine Beziehungen untereinander entwickeln. Aber da es in dieser Serie im Prinzip keinerlei Handlung gibt, finden die Veränderungen, die in einer klassischen Dramaturgie normalerweise der Held durchläuft, in den gesellschaftlichen Verhältnisse statt. Die von Maggie Gyllenhaal gespielte Candy hat keinen Kontakt zu ihrem Vater und doch zieht ihre Mutter ihren unehelichen Sohn im elterlichen Haushalt groß. Die Verhältnisse sind nie eindeutig und zwingen sie dennoch ständig den Druck auszuhalten, sich den gesellschaftlichen bzw. elterlichen Normen nicht zu unterwerfen und gleichzeitig genug Geld als Prostituierte zu verdienen oder Erfolg im Pornobusiness zu haben.

Um die Verhältnisse geht es auch bei der Beschreibung der Orte, die in allen Serien von David Simon eine zentrale Rolle spielen. Die Prostitution ist ohne die entsprechenden Etablissements wie Bars, Diners, Hotels und später die Bordelle nicht denkbar. Der Barkeeper Vincent Martino (James Franco) weiß wie man eine Bar zum Laufen bringt. Er ist eine ehrliche und anständige Person, die seinem spielsüchtigen Zwillingsbruder Frankie immer wieder aus der Patsche hilft. Das bleibt auch der Mafia nicht verborgen ohne deren Zustimmung er seinen Traum von einer eigenen Bar nicht verwirklichen kann. Wie verhält man sich wenn man von der Mafia Geld angeboten bekommt oder diese einen bittet ein Bordell einzurichten? Kann man da so ohne weiteres nein sagen? Überall wo der Staat rechtsfreie Räume zulässt wie bei Prostitution oder Barbetrieben, steht immer das organisierte Verbrechen im Hintergrund und macht seinen Einfluss geltend. Eine Bar zu betreiben ist so immer ein Balanceakt zwischen den legalen Rahmenbedingungen und den kriminellen Abmachungen wie den Schmiergeldzahlungen für die Polizei und die Mafia. In keiner Serie wurde vorher so genau beschrieben, in was für einem Graubereich sich ein Barbetreiber befindet, für den es kein richtig oder falsch, gut oder böse gibt. Der Schauspieler James Franco spielt die beiden Zwillingsbrüder, der eine ehrlich, der andere immer am Abgrund des Wahnsinns, die sich in diesem halbseidenen Milieu frei und lebendig fühlen. Jeden Moment kann ein Problem oder eine Frau um die Ecke kommen, die das ganze Leben zum Einsturz bringen können. So wird ein widersprüchlicher Zustand erzeugt, der jederzeit auf die eine oder andere Seite umschlagen kann. Vincent betreibt eine brummende Bar, aber sie ist immer einen Schritt vom Abgrund entfernt. Er weiß das und gibt sich dennoch der Illusion hin sich nicht verkauft zu haben. Man muss das Gesicht von James Franco gesehen haben.

In der The Deuce wird die klassische Dramaturgie auf den Kopf gestellt. Zwar gibt es die Hauptfiguren Maggie Gyllenhaal und James Franco, aber sie erleben alles andere als eine Heldengeschichte, in der sie sich verändern und über die Verhältnisse obsiegen. Das Gegenteil findet statt. Über die Hauptfiguren und zahlreichen Nebenrollen werden die labilen Verhältnisse der Prostituierten und des Barbetreibers sichtbar gemacht. Sie stehen unter einem ungeheuren Druck Geld verdienen zu müssen und sind den Interessen der Zuhälter, Mafia und korrupten Polizei ausgeliefert. Diese Verhältnisse sind extrem widersprüchlich, sodass nie vorhersehbar sind, was als nächstes passieren wird und wie die Protagonisten in diesen Verhältnissen zurechtkommen werden. Die Spannung wird so nicht aus der Handlung und den Erlebnissen der Protagonisten erzeugt, sondern aus der Darstellung der unsicheren Lebensverhältnissen.