Dramaturgische Kriterien – Spielfilm

Für die Drehbuchberatung und die Erstellung eines Drehbuchlektorats gibt es einen Katalog von filmdramaturgischen Kriterien, die jeder, der mit Film im kreativen, analytischen oder redaktionellen Bereich zu tun hat, kennen sollte.

  • Drei-Akt-Struktur
  • Die Reise des Helden
  • Widersprüchliche Hauptfigur
  • Dramaturgisches Dreieck
  • Emotionale Gehalt eine Szene
  • Backstorywound / Identifikation über eine Verletzung

Grundlagen

Als Grundlage für filmdramaturgische Kriterien gelten die für Filmgeschichten modifizierte Drei-Akt-Struktur von Syd Field und Die Reise des Helden von Joseph Campell. Die Filmwissenschaftlerin Michaela Krützen hat in ihrem Buch Dramaturgie des Films beide Modelle kombiniert und einen Kategorienkatalog geschaffen, der bei der Analyse und Gestaltung von Filmgeschichten unverzichtbar ist. Eine weitere Grundlage ist das Buch Story von Robert McGee, das die Modelle aufgreift und die Themen Struktur, Aufbau und emotionaler Gehalt einer Szene sowie den Antagonismus in allen seinen Formen vertieft. So gut wie alle erfolgreiche Filme und nahezu alle Filmklassiker können auf Grundlage dieser Kategorien aufgeschlüsselt werden.

Drei-Akt Struktur

Die Drei-Akt-Struktur geht auf Aristoteles Poetik zurück und wird bei Syd Field als Setup (1. Akt Exposition), Confrontation (2. Akt) und Resolution (3. Akt Auflösung) bezeichnet. Am Ende des ersten und zweiten Aktes gibt es jeweils einen Plotpoint, der ein Ereignis beschreibt, das im ersten Akt die Geschichte in eine andere Richtung führt und am Ende des zweiten Aktes zur Auflösung in den dritten Akt überleitet. Gäbe es den Plotpoint nicht, wäre die Geschichte an dieser Stelle zu Ende. Genau in der Mitte der Geschichte, die auch die Mitte des 2. Aktes darstellt, gibt es einen zentralen Wendepunkt, der das Ziel des Helden umformuliert und großen Einfluss auf die äußere und innere Reise des Helden hat. An diesem Punkt kann die Geschichte auch in eine Serie umgewandelt werden. Die Serienepisoden erzählen dann die Geschichte des Helden auf dem Weg zu seinem wahren Ziel.

Die Reise des Helden

In dem Buch Die Reise des Helden analysiert Joseph Campell die klassischen Heldensagen der letzten Jahrtausende und stellt fest, dass eine archetypische Grundstruktur in allen mythischen Geschichten zu erkennen ist. Christopher Vogler hat in seinem Buch Die Odyssee des Drehbuchschreibens diese archetypischen Grundmuster auf das filmische Erzählen übertragen. In Verbindung mit Syd Fields Paradigma der Drei-Akt-Struktur entsteht eine Erzähltheorie für das filmische Erzählen, die eine ganze Reihe an filmdramaturgischen Kriterien entwickelt und definiert hat.

1. Akt

Im 1. Akt der Reise des Helden (Exposition/Setup) wird die Hauptfigur in ihrer gegenwärtigen Situation (Status Quo) mit ihren Wünschen und Zielen (Need and Mood) eingeführt. Die vordergründigen Ziele des Helden stehen im Widerspruch zu seinen wahren Bedürfnissen. In der Regel gibt es einen initialen Auslöser in Form einer Warnung oder Verweigerung. Durch einen weiteren Auslöser und durch Zuspruch eines Beraters (Schwellenwärter) steuert der Held auf den ersten Wendepunkt (Plotpoint) zu, der ihn auf die Reise in eine fremde Welt schickt.

2. Akt

Der Plotpoint (Wendepunkt 1) am Ende des 1. Aktes führt den Helden über eine Schwelle in die unbekannte Welt des 2. Aktes, wo er Prüfungen und Abenteuer zu bestehen hat. Das Überstehen der ersten Prüfung spielt dabei eine zentrale Rolle (Initiation). In der Reise des Helden wird immer eine Zielvorgabe (Deadline) formuliert, welche die äußere und innere Reise der Hauptfigur in der fremden Welt vorantreibt und die Persönlichkeit des Helden verändert. Neben der vordergründigen Handlungsebene gibt es eine zweite thematisch bezogene Ebene, die das emotionale Bedürfnis und die wahren Ziele des Helden thematisieren.

Zentraler Wendepunkt

Genau in der Mitte der Geschichte, am zentralen Wendepunkt, hat der Held sein vordergründiges Ziel erreicht und ist am Höhepunkt oder Tiefpunkt seiner Kompetenzen angelangt. Der zentrale Wendepunkt ist deswegen so bedeutsam, da hier für den Helden und den Zuschauer klar wird, dass die bisher verfolgten Ziele nichts mit den wahren Bedürfnissen und Wünschen des Helden zu tun haben und deswegen umformuliert werden müssen. Im zweiten Teil des 2. Aktes gelangt der Held durch weitere Prüfungen zur Erkenntnis, welche seine wirklichen Bedürfnisse und Ziele sind. Der zweite Plotpoint (Wendepunkt 2) ist der Moment der Wahrheit und Klärung sowohl für die Handlung als auch für die Persönlichkeit des Helden. Der Held übertritt als veränderter Mensch die Schwelle von der unvertrauten zurück in die vertraute Welt.

3. Akt

Im 3. Akt bereitet sich der veränderte Held auf die finale Auseinandersetzung (Showdown) vor, welche die äußere und innere Reise des Helden beendet. Der Held hat eine innere Verwandlung vollzogen und erhält am Ende die Belohnung des Happy Ends. Ein Epilog unterstreicht häufig das neue Bewusstsein des Helden in seiner vertrauten Welt.

Widersprüchliche Hauptfigur

Eine Grundregel der Filmdramaturgie lautet: Die Hauptfigur muss widersprüchlich sein. Wenn ein Protagonist ausschließlich gut oder böse ist, ist er in seiner Persönlichkeit eindimensional angelegt und alle seine Handlungen und Reaktionen werden vorhersehbar. Das Prinzip der Widersprüchlichkeit löst die Vorhersehbarkeit eines Charakters auf und erzeugt beim Zuschauer das Interesse an der Figur. Die Glaubwürdigkeit eines Protagonisten hängt davon ab, wie seine Widersprüchlichkeit sichtbar gemacht wird und wie die Filmfigur durch ihre Widersprüchlichkeit in Krisen und Konflikte geführt wird. Menschen sind vielschichtig und ein eindimensional angelegter Protagonist ist per Definition langweilig.

Initialzündung für die Handlung

In der Reise des Helden taucht die Hauptfigur in eine fremde Welt ein, in der sie Abenteuer bestehen muss und aus der sie am Ende als veränderte Persönlichkeit in die vertraute Welt zurückkehrt. Am Anfang ist sich die Hauptfigur über ihre tatsächlichen Ziele noch nicht im Klaren, aber ihre vordergründigen handlungsorientierten Ziele stehen im Widerspruch zu ihren wahren Bedürfnissen. Dieser Widerspruch ist die Initialzündung für Handlung.

Dramaturgisches Dreieck

Das dramaturgische Dreieck kommt aus der Theatertheorie und beschreibt ein einfaches Prinzip, das in der Literatur, im Theater und im Film eine wichtige Rolle spielt. Die Zuneigung einer Hauptfigur zu einem Protagonisten wechselt im Laufe der Geschichte zu einer anderen Person. Diese Form kann in einer Geschichte groß angelegt sein oder im Kleinen auch mit jeder Nebenfigur gestaltet werden. Der Wechsel der Zuneigung kann innerhalb einer Geschichte auch mehrmals stattfinden und sich auf weitere Protagonisten verästeln. Je mehr dramaturgische Dreiecke in einer Geschichte erkennbar sind, desto komplexer die Erzählung. Das dramaturgische Dreieck gehört in den Themenkomplex des Antagonismus und ist eine Variation der Widersprüchlichkeit.

Emotionaler Gehalt einer Szene

Auch Szenen müssen widersprüchlich aufgebaut sein, damit sie nicht vorhersehbar und langweilig werden. Wechselt die Stimmungslage innerhalb einer Szene ein oder mehrere Male, wird dadurch eine Intensität und Spannung aufgebaut, die das Interesse des Zuschauers aufrecht hält.

Backstorywound / Identifikation über eine Verletzung

Die Identifikation des Zuschauers mit einem Protagonisten verläuft in aller Regel über eine Verletzung aus der Vergangenheit oder Gegenwart. Die Verletzung aus der Vergangenheit (Backstorywound) bestimmt die Handlungen und Reaktionen der Hauptfigur in der Gegenwart. Zugleich ist sie der Motor für die Geschichte, welche die Handlung vorantreibt und den Helden auf die Reise schickt.

Viele Filme beginnen mit der konkreten Darstellung der Verletzung um eine Identifikation des Zuschauers mit dem Protagonisten herzustellen. Die tatsächliche Backstorywound ist zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht zu erkennen, sondern entfaltet sich erst im Lauf der Handlung.

Das Gefühl, Opfer einer Verletzung zu sein, scheint eine archetypische Erfahrung des Menschen zu sein, mit der sich jeder Zuschauer identifizieren kann. Indem der Zuschauer sich in eine Figur hineinversetzt, die eine Verletzung erfahren hat, versucht er herauszufinden, wie die Figur mit dem Gefühl der Ohnmacht und des Schmerzes umgeht. Das Interesse des Zuschauers ist es, in der Vorstellung nachzuempfinden, wie man Schmerz vermeiden kann oder wie man ihn, wenn die Verletzung schon stattgefunden hat, bewältigen kann.

Thema

Jede Filmgeschichte benötigt neben der offensichtlichen Handlungsebene auf einer zweiten Ebene ein übergeordnetes Thema, das mit den wahren Bedürfnissen der Protagonisten im Zusammenhang steht. Der Dualismus der äußeren Handlung auf der einen Seite und die verborgenen emotionalen Bedürfnisse verbunden mit dem Thema auf der anderen Ebene, sind eine weitere Spielart der Widersprüchlichkeit. Durch die Bezugnahme auf ein Thema verlässt der Film die rein illustrative Darstellung einer Filmgeschichte und verbindet sie mit dem Bewusstsein des Zuschauers sofern er sich für das Thema interessiert oder es ihn betrifft.

Klassik, Moderne, Nachmoderne

Klassik

Die allermeisten für den Unterhaltungsbereich produzierten Spielfilme betreffen die oben beschriebenen filmdramaturgischen Kriterien. Wenn alle filmdramaturgischen Kriterien eingehalten werden, spricht man vom klassischen Erzählkino.

Moderne

Das Kino der Moderne bricht bewusst nicht nur die Regeln der Filmdramaturgie, sondern auch die Regeln der filmtechnischen Produkthaftigkeit. Gemeint sind die Verfremdungen in den Bereichen Chronologie, Schnitt, Kameraeinstellung, Licht, Continuity, Setdesign, Kostüm und Maske, wo durch das Unterlaufen der Sehkonventionen und Zuschauererwartungen eine Irritation geschaffen wird, deren Intensivität einen künstlichen Bezug zu den Assoziationen des Zuschauers herstellen soll. Der Film der Moderne ist nur möglich, wenn man die Sehkonventionen des klassischen Erzählkinos kennt und sie mit dem Nichteinhalten oder Fehlen der filmdramaturgischen Kriterien in Bezug setzen kann.

Nachmoderne

So gut wie alle Filmgeschichten sind heutzutage Variationen bereits bekannter Geschichten. Die Filme der Nachmoderne vermischen die dramaturgischen Kriterien des klassischen Erzählkinos mit den Regelverstößen der Moderne und erweitern dadurch die Variationsmöglichkeiten des filmischen Erzählens. Durch die Nachmoderne haben sich die Sehkonventionen um unzuverlässige Erzählungen, nicht-chronologischen Geschichten und mehrsträngige Handlungen erweitert. Die Erweiterungen der filmsprachlichen Möglichkeiten haben großen Einfluss auf die Wechselwirkungen zwischen Kino und dem seriellen Erzählen.

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