Dramaturgische Kriterien – Serie

Grundregeln

Um das Interesse für die Geschichte einer Serie über viele Episoden und Staffeln aufrechtzuerhalten, ist es notwendig, sich über die Widersprüchlichkeit der Figuren und die Bedeutung der Beziehungen untereinander im Klaren zu sein. In jeder Serie sind die Charakterisierung und Beziehungen der Protagonisten von entscheidender Wichtigkeit für die Tragfähigkeit eines Erzählkonzepts und die Identifikation des Zuschauers mit der Hauptfigur. In aller Deutlichkeit wird hier auf drei dramaturgische Kriterien hingewiesen, die bei Serien zu Grundregeln erhoben werden müssen.

1. Grundregel: Die Figuren müssen widersprüchlich sein

Die Widersprüchlichkeit einer Figur ist verantwortlich für das dramaturgische Potential einer Geschichte. Die Handlungen und Reaktionen einer widersprüchlichen Figur sind nicht vorhersehbar und wecken aufgrund des ungewissen Ausgangs das Interesse des Zuschauers. Je weiter die Widersprüchlichkeit ausgedehnt wird oder je größer die Gegensätzlichkeit in den Handlungssträngen dargestellt ist, desto stärker ist das dramaturgische Potenzial. Ein Blick auf erfolgreiche Serien wie Breaking Bad oder Homeland belegen diese Argumentation. Eindimensional angelegte Figuren, ob gut oder böse, sind vorhersehbar und vermögen dieses dramaturgische Potential nicht auszulösen.

2. Grundregel: Die Identifikation verläuft über eine Verletzung

Die Identifikation des Zuschauers mit einem Protagonisten verläuft immer über eine Verletzung, welche die Filmfigur in der Vergangenheit (Backstorywound) oder Gegenwart erfahren hat. Die Wahrnehmung, Schmerz erlitten zu haben oder das Gefühl ein Opfer geworden zu sein, ist eine Grunderfahrung, die jeder Mensch kennt. Die Gemeinsamkeit dieser emphatischen Grunderfahrung stellt die Bindung zwischen Zuschauer und Helden her. Der Zuschauer interessiert sich dafür, wie die Identifikationsfigur die Verletzung bewältigt, den Schmerz vermeidet und das Gefühl, ein Opfer zu sein, überwindet.

Obwohl die Verletzung des Protagonisten eng mit der Widersprüchlichkeit der Figur verbunden ist, dürfen sie auf keinen Fall miteinander verwechselt werden. Viele Serien in Deutschland und Europa verzichten auf widersprüchliche Hauptfiguren und gründen ihr Erzählkonzept ausschließlich auf der Grunderfahrung einer Verletzung. Dadurch wird die Identifikation zwischen Zuschauer und Filmfigur zwar hergestellt, aber die Eindimensionalität und Vorhersehbarkeit schwächt die Figur und das Interesse an der Geschichte enorm. Die emotionale Anteilnahme mit der Verletzung einer widersprüchlichen Figur macht die Abgründe einer Person erst wirklich erfahrbar.

3. Grundregel: Die Beziehungen der Protagonisten müssen sich entwickeln.

Jede Serie hat Handlungsstränge, die über ihre Protagonisten erzählt werden. Die Aktionen der Protagonisten und die Beziehungen zu anderen Personen sind zwei Komponenten innerhalb der Geschichte, die miteinander verbunden sein müssen. Die Kunst ist es, die Handlungsgeschichten mit den Beziehungsgeschichten so eng miteinander zu verknüpfen, dass das Interesse an beiden Geschichten nicht abreißt. Dies gelingt allerdings nur, wenn jede Aktion des Protagonisten Konsequenzen auf die Beziehung zu einer anderen Person hat und umgekehrt das Beziehungsgeflecht der agierenden Figuren die Handlung beeinflusst. Die Wechselwirkungen zwischen Handlungs- und Beziehungsgeschichten sollten möglichst widersprüchlich angelegt sein, um mit dem daraus resultierenden dramaturgischen Potential die Geschichte voranzutreiben. Stagniert die Beziehungsgeschichte oder wird sie unterbrochen, verliert der Zuschauer die Bindung zu den Protagonisten oder zur Geschichte. Im Wesentlichen geht es darum, und darauf wird hier nochmals ausdrücklich hingewiesen, die Beziehungsgeschichte muss sich neben der Handlungsgeschichte verändern und weiterentwickeln.

Obwohl sich dieser Sachverhalt banal anhört, liegen genau hier die größten Gefahren des seriellen Erzählens. Viele Action- und Superhero-Serien kämpfen genau mit diesem Problem. Wenn die Aktion des Helden keine Auswirkungen auf die Beziehung zur anderen Person hat, läuft die Handlung ins Leere. Auch dürfen Beziehungen aufgrund eines aktionsreichen Handlungsverlaufs nicht plötzlich abbrechen. Verändert sich die Beziehung zu einem anderen Menschen nicht, erlahmt das Interesse an der Person und deren Geschichte. Solch starren Beziehungsverhältnissen kann erzählerisch nur mit Humor begegnet werden, warum sie in der Comedy-Serie eine wichtige Rolle spielen. Im Drama hingegen ist die Entwicklung der Beziehung, ob konstruktiv oder destruktiv, eine existentielle Notwendigkeit.

Grundformen seriellen Erzählens

Bei der Beschäftigung mit Serien ist die Kenntnis der dramaturgischen Kriterien für filmisches Erzählen unverzichtbar. Zusätzlich muss man sich über die Grundformen des seriellen Erzählens im Klaren sein, um zu verstehen, warum einer widersprüchlichen Hauptfigur, der Identifikation und dem Beziehungsgeflecht des Spielpersonals eine so überragende Rolle zukommt.

  • Serie mit abgeschlossener Folgenhandlung
  • Fortsetzungsserie
  • Mehrteiler
  • Mischformen

Serie mit abgeschlossener Folgenhandlung

Die Handlungen der einzelnen Episoden sind abgeschlossen. Die Gesamtheit der Erzählkonzeption bleibt offen. Die Chronologie der einzelnen Folgen spielt keine Rolle. Diese Erzählform wird häufig bei Krimis (CSI, Boston Legal), Sitcoms (Seinfeld), Western (Bonanza), Action (MacGyver, A-Team) und Science Fiction (Star Trek) verwendet.

Fortsetzungsserie

Weder die einzelnen Folgen noch die Gesamtheit der Handlung sind jemals abgeschlossen (Dallas, GZSZ, Lindenstraße). Die Chronologie der Fortsetzungsfolgen muss eingehalten werden. Eine Ausprägung dieser Erzählform ist die Daily Soap.

Mehrteiler

Der Handlungsbogen verläuft über die einzelnen Folgen hinaus und findet seine Auflösung erst im finalen Abschluss (Twin Peaks). Eine Ausprägung dieser Erzählform ist die Telenovela (Verliebt in Berlin).

Mischformen

Die Handlungen der einzelnen Folgen sind abgeschlossen, wohingegen die Beziehungen der Protagonisten sich folgenübergreifend weiterentwickeln (ER, Ally McBeal, Six Feet Under, Schwarzwaldklinik). Mittlerweile gibt es auch einige episodische Serien, bei denen neben einer abgeschlossenen Episodenhandlung zusätzlich ein folgenübergreifender Handlungsstrang entwickelt wird (Person of Interest, Blacklist).

Serie Filmlicht und Buch