Wer das großartige Buch von Roberto Saviano und den genialen Spielfilm von Matteo Gatone kennt, wird von der Serie Gomorrha  sehr enttäuscht sein. Die Serie ist hervorragend gemacht und vermittelt einen glaubwürdigen Eindruck wie die Mafia, vor allem in den armen Gebieten von Neapel, den Alltag der Menschen bestimmt. Aber dramaturgisch gesehen, funktioniert die Geschichte überhaupt nicht. Im Mittelpunkt der Serie steht der Savastano-Clan, der jeden Regelverstoß im organisierten Drogenhandel mit Gewalt beantwortet. Am Anfang wird auf den Conte-Clan ein Brandanschlag verübt, der den Savastano-Clan mit Drogen aus Spanien versorgt. Don Pietro Savastano verhandelt nicht, er tötet. Und wenn dabei die halbe Mannschaft aufgerieben wird, ist das eben das Geschäftsrisiko. Es stellt sich die Frage, wie ein Unternehmen funktionieren kann, welches jedes Problem mit Gewalt beantwortet und erst wenn die Situation aussichtslos verfahren ist, notgedrungen verhandelt? Wer ein erfolgreiches Unternehmen führen will, muss verhandeln und Kompromisse eingehen können. Aber Savastano agiert stur gewalttätig und wird dadurch zu einer eindimensionalen langweiligen Figur. Die Macher der Serie wollen erzählen, wie destruktiv das Prinzip der Gewalt als Antwort auf jedes Problem ist. Aber es macht die Figuren zu eindimensionalen Protagonisten die dadurch dumm, ignorant und zudem vollkommen unglaubwürdig wirken.

Das zweite vollkommen unglaubwürdig wirkende Prinzip der Serie, ist die Behauptung, dass der Sohn von Don Pietro Savastano, Gennaro “Genny” Savastano, die Führungsrolle des Patriarchen übernehmen müsse, falls der Vater ausfällt. Die Tatsache, dass das verwöhnte Millionärssöhnchen vollkommen unfähig und uwillig ist, wird von allen Beteiligten weggelogen und ignoriert. Genny genießt zwar den Reichtum der Familie, aber er erträgt keine Gewalt und kann sie schon gar nicht ausüben. Er interessiert sich viel mehr für seine neue Freundin und kann sich nur wegen seiner Stellung als Sohn des Dons in der brutalen Männergemeinschaft halten. Genny weiß, dass er die Position seines Vaters nicht einnehmen kann und als wegen seinen Eskapaden mehrere Männer getötet werden, macht er mit seinem Motorrad einen Selbstmordversuch. Gennys Vater Don Pietro wird auf dem Weg ins Krankenhaus von der Polizei angehalten und mit Kokain und illegalem Geld erwischt. Don Pietro kommt ins Gefängnis. Das Prinzip, dass der Sohn die Rolle seines Vaters ungeachtet aller Kompetenzen übernehmen muss, ist in einem hohen Maße unglaubwürdig.

Im Mittelpunkt der Serie steht Gennys Freund Ciro, der im Verlaufe der Handlung in der Hierarchie des Clans aufsteigen wird und der Genny dazu verhelfen soll, seine Führungsrolle in der Clanstruktur einzunehmen. Die Ehefrau von Don Pietro Savastano ist in Wirklichkeit die Person, die die Fähigkeit und den Willen dazu hat, den Familienclan anzuführen. Aber selbst im Gefängnis hält Don Pietro an seinen statischen und sturen Ansichten fest und verlangt absoluten Gehorsam. Die Situation wird noch verworrener, als der Geschäftsführer in falsche Fonds investiert und Geld unterschlägt. Plötzlich ist nicht mehr genug flüssiges Geld vorhanden und die Nachschubwege für Drogen unterbrochen. Hinter dem Rückem ihres Mannes befiehlt Don Pietros Frau Ciro mit dem Conte-Clan Frieden zu schließen und für den Drogennachschub zu sorgen.

Keiner der Protagonisten reflektiert über das Wesen des organisierten Verbrechens und den Sinn seines Handelns. Alle Figuren sind eindimensional als böse und gewalttätig angelegt. Es hätte der Serie gut getan, zu zeigen wie das organisierte Verbrechen die Lebensqualität der Menschen verändert: die Gemeinschaft, die Freundschaft, die Familie, der Zusammenhalt, der Reichtum, das Überwinden der Armut. Don Pietro Savastano ist stur und gewalttätig, er verlangt den totalen Gehorsam und sein Sohn soll sein Thronfolger sein. Die Ehefrau übernimmt defacto die Führungsrolle, aber nicht um die Familie zu erhalten, sondern um egoistisch ihren eigenen Status Quo aufrecht zu erhalten. Ciro ist am Anfang kurz davor aus der Mafia auszusteigen, seine Frau und sein Kind sieht man aber nur in der ersten Episode, nach seinem Karrieresprung innerhalb der Organisation ist davon keine Rede mehr. Die einzige halbwegs interesstante Figur ist Don Pietros Sohn Genny. Die Widersprüchlichkeit seiner Figur spiegelt sich in seiner gesamten Charakterisierung wider. Er ist der verweichlichte Sohn des Patriarchen und soll die Führungsrolle übernehmen, zu der er überhaupt nicht fähig ist. Neben seiner Rolle als Opfer taugt er als Identifikationsfigur aber denoch nicht, da er neben seiner Arroganz, Dummheit und Ignoranz keinerlei liebenswerten Eigenschaften hat. Alle Figuren in dieser Serie sind eindimensional kriminell, gewalttätig und haben kein anderes Ziel als sich permanent übers Ohr zu hauen.

Die Handlung wird erst interessanter, nachdem Don Pietro Savastanon ins Gefängnis kommt und ein Machtkampf über die Führung des Clans entbrennt. Don Pietros Ehefrau will die beiden Männer, die ihr dabei im Weg stehen, loswerden. Sie schickt ihren Sohn und Ciro unabhängig voneinander in zwei Unternehmungen, bei denen sie den Tod finden sollen. Beide überleben die Falle. Allerdings kommt Genny vollkommen verändert zurück, da er in Todesangst einen Menschen mit der Machete töten musste. Er bedroht seine Mutter, seinen Führungsanspruch nie wieder in Frage zu stellen. Und er wendet sich von Ciro ab, der all seine Schwächen kennt. Genny verheizt bei seinen Unternehmungen rücksichtslos seine Männer und im Clan gibt es eine Spaltung zwischen den alten und jungen Mitgliedern. Da Ciro keine Zukunft im Clan mehr sieht, zettelt er einen Krieg zwischen den Clans an um den Auflösungsprozess unter Gennys Führung zu beschleunigen.

Die Serie erzählt den Zerfall eines Camorra-Clans und versäumt es vollkommen, eine thematische oder eine sozialkritische Ebene einzubauen. Man erfährt nichts über die andere Seiten der Geschichte, die Polizei, die Anwälte, der Staat und die einzelnen Personen, die sich gegen diese korrupten Strukturen wehren. Es wird zwar deutlich, wie ausgeliefert der Einzelne innerhalb der Strukturen des organisierten Verbrechens ist, aber mehr als eine Beschreibung der Lebensumstände innerhalb der Clans bietet die Serie nicht. Es wird nicht gezeigt, wie die Mafiastrukturen die Zivilgesellschaften zersetzen. Und es wird auch nicht erzählt, welche Qualitäten die Kriminalität und Korruption für die Menschen der Mafiaclans hat. Denn eines ist doch klar, die kriminellen Strukturen versorgen durchaus die Menschen, die innerhalb solcher Systeme leben. Aber die Serie erzählt lediglich, wie destruktiv gewalttätige Strukturen sind und dass sie nicht überlebensfähig sind. Die Realität sieht aber ganz anders aus. Das organisierte Verbrechen gibt es seit Jahrhunderten, und zwar überall dort, wo die Zivilgesellschaften versagen.